Reitkultur – anatomisch und psychologisch pferdegerechtes Training
Der Begriff „Kultur“ kommt von dem lateinischen Wort „colere“ und bedeutet so viel wie „bebauen, bestellen, pflegen“. Genauso wie die Lebens- und Kunstkultur, ist auch die Reitkultur einem ständigen Wandel und zeitgenössischen Auffassungen unterworfen.
Heute zu recht verpönt, war die Rollkur oder Hyperflexion des Pferdes zu früheren Zeiten als „Methode der Wahl“ glorifiziert. Von der Rollkur einmal abgesehen, findet man in den Schriften der alten Reitmeister viele wertvolle Anregungen für trainingsphysiologisch korrektes Anreiten von jungen Pferden.
So wird beispielsweise die Sinnhaftigkeit der Gymnastizierungsübungen für Pferde nach Baucher aktuell wieder vermehrt unter die Lupe genommen. Denn damals hatten die Pferdeausbilder noch Zeit und Muße, sich mit den biomechanischen Zusammenhängen und Hintergründen des Reitens zu beschäftigen. In jedem Fall bin ich der Meinung, dass die Reitkultur nur dann zur Reitkunst werden kann, wenn einige grundsätzliche Punkte beachtet werden:
Pferdetraining im weiteren und Reiten im engeren Sinne ist nur dann ethisch vertretbar, wenn Pferd und Mensch keine Schmerzen oder Schaden zugefügt werden. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn das Pferdetraining biomechanisch und didaktisch korrekt aufgebaut ist.
Dabei ist die Berücksichtigung von anatomischen Besonderheiten und die Neigungen bzw. Talente des Pferdes essentiell. Außerdem muss das Training Pferde-psychologisch adäquat und aufs Pferd individuell abgestimmt aufgebaut sein, denn es gibt beim Pferdetraining kein „Patentrezept“.
Um einem Pferd beim Training keine Schmerzen zuzufügen, ist grundsätzlich erstmal festzustellen, ob sich das Pferd in einem gesundheitlichen Zustand befindet, in dem es die vom Pferdeausbilder die geforderte Leistung überhaupt erbringen KANN. Auch Dressur-Koryphäe Dr. Reiner Klimke riet: „Bevor ich anfange, muß ich wissen, daß das Tier physisch und psychisch in Ordnung ist.“
Viele Widersetzlichkeiten beruhen nicht auf schlechtem Charakter des Pferdes, sondern auf der Unfähigkeit, den Anweisungen des Pferdetrainers Folge zu leisten. Diese Unfähigkeit kann einerseits von körperlichen Problemen und Exterieurmängeln herrühren. Andererseits auch auf Missverständnissen bzw. Überforderung des Pferdes beruhen. Hier sind wiederum umfassende Kenntnisse von Trainingslehre, Biomechanik und Pferdepsychologie beim Pferdetrainer gefragt. Wichtig ist auch, eine passende Ausrüstung fürs Pferd zu finden. Und ein weiterer wichtiger Faktor in der Pferdeausbildung ist Zeit.
Leider wird dem Faktor Zeit aktuell aufgrund von kommerziellen Hintergründen immer weniger Beachtung geschenkt. Ein Pferd „oberflächlich“ innerhalb von einem Jahr auszubilden, mag möglich sein. Aber 4jährige Pferde, die anscheinend Lektionen bis L „perfekt“ (doch sicherlich unter Spannung) beherrschen, sind mit großer Wahrscheinlichkeit genauso schnell „verschlissen“, wie sie auftrainiert wurden. Denn junge Pferde brauchen Zeit, um Sehnen, Bänder, Gelenke, Muskeln etc. an die unnatürliche Belastung und das Gewicht des Reiters anzupassen…
Kein Wunder, dass die durchschnittliche Lebenserwartung eines Pferdes im deutschsprachigen Raum je nach Studie zwischen 7,5 und 10 Jahren liegt. Die natürliche Lebenserwartung von (Wild-) Pferden aber mit rund 30 Jahren deutlich höher ist – und das ohne Pferdetherapeutin, Tierarzt, Fütterungsmeister oder Reit-Heiltrainer. Natürlich ist nicht nur das Training des Pferdes ausschlaggebend für seine Lebenserwartung, sondern auch Pferdehaltung, Pferdefütterung und Hufbearbeitung spielen eine wichtige Rolle.